Vor einer Generation war Tis Isat (auch Tissisat) ein verschlafenes, verlorenes, vergessenes Dorf im Nirgendwo im Norden Äthiopiens. Vor einer Generation gab es noch keinen nennenswerten Tourismus ausserhalb der Hauptstadt und der Hotspots im Nordosten (Vulkane, in die Felsen gehauene Kirchen usw.). Von Interesse war im Norden allenfalls der Lake Tana. Lange galt der Tanasaee als Quelle des Blauen Nils, heute weiss man es besser, der Nil fliesst nur durch den See hindurch. Später wurde man auf die Wasserfälle des Blauen Nils bei Tis Isat aufmerksam. Damit begann das Disaster.
Heute sind der Lake Tana und die Tis-Isat-Fälle ein Abhak-Punkt bei ausländischen Touristen. See und Fälle liegen nahe beieinander und sind mit einem Tagesauflug von der Hauptstadt über den Flughafen von Bahir Dar erreichbar. Tour Operators warten am Flughafen auf die Touristen und fahren sie an die Wasserfälle und zum See. Dann gibts einen Bootsausflug, Zmittag, Coffee Ceremony. Kurzer Augenschein in die Gassen der Stadt, aber nur vom Bus aus, sicher nicht durch die Gassen schlendern – dreckig! Und man könnte ja überfallen werden. Natürlich macht so eine geführte Tour mit zwei Dutzend Deutschen oder Franzosen keinen Spass. Für die Einheimischen schon gar nicht.
Die Strasse von Bahir Dar zu den Wasserfällen ist etwa 30 km lang, voller Schlaglöcher und nicht asphaltiert. Sie führt durch zwei Dörfer und ist eigentlich genau zu diesem Zweck gebaut worden: Um den Menschen in den Dörfern eine gewisse minimale Infrastruktur zu bieten. Auf der Strasse gehen die Kinder zu Schule, die Frauen zu den Märkten, treiben die Bauern ihr Vieh auf die Weiden und zurück, bringen ihr Heu und die Ernten ein. Die Strasse ist auch Dorf-, Spiel- und Marktplatz, motorisierten Verkehr gibt es sozusagen keinen. Tönt nach idyllischem Dorfleben. Ist es aber nicht.
Ab 8 Uhr am Morgen geht es los: Busse, kleine, grosse, Geländewagen (auch unser Fahrzeug gehört dazu) zwängen sich durch die Dörfer. Staub wird aufgewirbelt, Kühe werden auseinandergetrieben, Eselkarren müssen ausweichen, Kinder müssen flüchten. Die Strasse ist eine Sackgasse. Was durchfährt, muss auch wieder zurück. Eine andere Möglichkeit für die Touristen, hierher zu kommen, gibt es nicht. Den ganzen Tag geht das so, das ganze Jahr, und – es nimmt zu. Die Nilwasserfälle sind ein Hotspot, werden massiv auch im Ausland promotet, ungeachtet der Bedürfnisse der Menschen, die hier leben und derentwegen man die Strasse gebaut hat.