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Alexandria BBQ

Alexandria und Kleopatra

Wie Alexandria Alexandria wurde und was es mit Kleopatra zu tun hat (nämlich fast nichts) – das siebte Weltwunder – Barbeque am letzten Tag des Jahres

ALEXANDRIA – Immer schon hat mich die Frage beschäftigt, warum Alexandria Alexandria heisst. Vielleicht hatte ich damals in der Schule gerade einen Fensterplatz, als es um Ägypten ging oder um die längsten Flüsse der Welt oder um einen der grössten Eroberer der Welt. Es hätte also mindestens drei Gründe gegeben, auf Alexandria aufmerksam zu werden – aber ich wurde es aus mir nicht mehr rekonstruierbaren Gründen nicht. Zeit, dies nachzuholen. Deshalb, aber nicht nur, bin ich hier, wenn auch nur kurz, nämlich gerade mal 36 Stunden. Dann hat mich der wärmere Süden gerufen, Kairo nämlich und dann Assuan (und bald folgt der Sudan). Und tatsächlich, das Wetter wurde immer besser und angenehmer desto süder. Ich bin also zu der Zeit, in der ich das hier schreibe, schon weit weg von Alexandria, in Luxor nämlich.

Stets stand und steht Alexandria im Schatten der Hauptstadt Kairo. Dabei hat die Stadt an der Mündung des Nils viel mehr Geschichte und war zu ihren besten Zeiten richtig wichtig. Alexandria wurde 331 v.Chr. von Alexander dem Grossen (356 bis 323 v.Chr.) gegründet. Der König von Makedonien hatte zu jener Zeit einen richtig guten Lauf und eroberte ganz Kleinasien. Aber die Herrschaft Alexanders über sein Reich endete schon bald wieder, kaum dass er gestorben war bzw. sich zu Tode soff. Als Alexander der Alkoholiker an den Nil kam, wurde er wie ein neuer Pharao empfangen. Als er mit 33 Jahren ging, wurde Alexandria Hauptstadt des Ptolemäischen Reich’s und es gab fortan nur noch Könige (und Königinnen) statt Pharaonen. Auch Kleopatra (69 v.Chr bis 30 n.Chr.) war «nur» eine Königin und zudem hatte sie nicht mehr allzuviel zu sagen, denn das Königreich Ägypten wurde schon eine ganze Weile von Rom aus gesteuert (und geplündert).

Im Jahr 69 n.Chr. fiel Alexandria endgültig an Rom, später Ostrom (bzw. des byzanthinischen Reich’s). Das Land am Nil blieb römische Provinz und wichtigster Weizenacker bis 642, als die Araber in Ägypten und später über ganz Nordafrika herfielen. Stets war Alexandria die Hauptstadt und die Gründung Kairo’s lag noch über 300 Jahre weit weg. Vor dem natürlichen Hafen von Alexandria stand einst das siebte Weltwunder der Antike, der Leuchtturm «Pharos». Er stand dort nach zwanzigjähriger Bauzeit ab dem Jahr 279 v.Chr. bis mindestens 365 n.Chr., also fast 650 Jahre und fiel dann einem Erdbeben zum Opfer. Wobei man nicht genau weiss, welches Erdbeben, das von 365 oder das von 769. Ebensowenig genau weiss man, wie hoch Pharos war: 300 Ellen stand in den Bauunterlagen. Doch weiss man nicht, ob man die kleine (0,449m) oder die königliche Elle (0.5236m) als Mass nahm. Somit war das siebte Weltwunder mindestens 135 Meter, höchstens aber 157 Meter hoch. Wäre es letzteres, wäre es zusätzlich zum Wunder auch das höchste Gebäude der damaligen Welt gewesen (so war es es halt die Cheops-Pyramide in Gizeh (ursprünglich 146.6m)).

Alexandria BBQ

Silvester-Barbeque bei Anwar Masoud B.B.Q. – natürlich kein Schwein und kein Alkohol

 

Biblioteca Alexandrina

Es raucht in den Köpfen von Alexandria’s StudentInnen – Besuch in der Biblioteca Alexandrina – wenn überall Polizeiabsperrungen sind und wie man sich eine Zitrone ausdrücken lässt.

ALEXANDRIA – Man kann ja vieles tun an einem Nachmittag des Jahres letzten Tag’s. Zum Beispiel vor dem TV rumhängen, sich vorbetrinken (oder beides zusammen), oder Skifahren fahren, oder man kann sich etwas ansehen gehen (Museum/Einkaufszentrum/Spengler Cup). Nicht alles vom Genannten birgt nachhaltig Vorteile (gerade höre ich in den Nachrichten auf Rock Antenne, dass in Frankreich ein Skifahrer von einem Baum erschlagen wurde (Sport ist Mord (meine Rede))). Da ich grad in Alexandria bin, fällt das Eine und Andere ausser Betracht, Essen aber fällt nie ausser Betracht. So also begebe ich mich zwecks Mittagessens in eine vom googel empfohlene Beiz namens «Cap d’Or».

Aus Gold ist da natürlich nichts, aber es gibt Bier, was nicht selbstverständlich ist in dieser Stadt, und nach Bier dürstet mich jetzt. Der Wirt, ein kleiner Mann ohne substantielle Englischkenntnisse (was ich ihm nicht im Geringsten zum Vorwurf mache, da ich ja ebensowenig substantielle Arabischkenntnisse habe), meint gleich zu Beginn des Bestellungsgesprächs, dass es nur Fisch gibt. Womit die Frage nach der Karte sich soeben selbst erledingt hat. Er macht ein paar Vorschläge in gebrochenem Englisch/Italienisch/sonst irgendwas, woraus ich den einen und anderen Begriff heruaszuhören glaube.  Ich bestelle also und erhalte dann frittierte Tintenfischringe (kennt man) sowie eine Handvoll gebratene Crevetten (kennt man enad auch). Plus Salat und Fladenbrot und ein Tellerchen mit einer Creme, die sich wie Omelettenteig anfühlt und auch so schmeckt.

Wie ich in der Folge so richtig reinhauen möchte, kommt der Wirt nochmal daher und presst eigenhändig und faustdick eine Zitrone über meinen Früchten des Meeres aus. Ich lasse es geschehen, auch im Wissen, dass dies einer der ganz grossen Reisefehler ist, den man begehen kann und bin optimistisch. Inschallah würden sie hier sagen, wobei hier wohl eher mein antibakterielles Abwehrsystem gefragt sein wird statt der liebe Gott. Ansonsten lässt er mich dann essen und diskutiert mit einem älteren Gast am Stock am Nebentisch, wobei mich beide nicht aus den Augen lassen. Dann und wann rennt eine Dame, von der ich annehme, dass es die Köchin ist, mit dem Handy am Ohr durchs Lokal auf die Strasse. Von diesem Moment an weiss ich, warum die Frauen hier Kopftücher tragen: Mann kann damit das Handy ans Ohr klemmen und hat beide Hände frei zum Kochen/Putzen/Kinderfüttern usw. Dumm nur, wenn man in der Küche keinen Empfang hat.

Mein nächster Plan ist die Bibliothek. Die berühmte Biblioteca Alexandrina, scheint’s die grösste Bibliothek im arabischen Raum. Da das Internet hier überall ein wenig bis sehr viel harzt, habe ich mir den Strassenplan der Innenstadt dieser Stadt vorab eingeprägt (bzw. versucht einzuprägen, wobei der situationsbedingte Schlafentzug in der letzten Nacht dabei eher hinderlich war). Nun macht mir die Polizei einen Strich durch die Rechnung, indem sie eine Strasse einfach sperrt und meinen sauberen Plan im Kopf zerbröseln lässt. Klar, die machen ja nur ihren Job und der ist delikat genug in diesen Zeiten in Ägypten, ich muss mich neu orientieren, bzw. teures Datenroaming beanspruchen. Doch allzu schwierig ist die Wegfindung zu dieser Bibliothek auch auf Umwegen nicht, steht sie doch am Meer und fast ist mir als hörte ich es schon rauschen (in Tat und Wahrheit ist es der rege Strassenverkehr). Schliesslich finde ich das Ding und auch den Ticketschalter, der nicht gleich beim Eingang ist, sondern etwas weiter davor und so bschriftet, dass man, also ich, nicht erkennt, dass es der Ticketschalter der Biblioteca Alexandrina ist, da in arabischer Schrift, derer ich nicht mächtig bin, beschriftet. Doch der freundliche Ticketvorkontrolleur – auch hier gibts Eingangs-, Sicherheits- und Ticketkontrolle inkl. Metalldetektor à la Flughafen (kein Scherz imfall – drei Kontrollen!) – weist mich auch die Begebenheiten hin.

Die Biblioteca Alexandrina wurde in den Nullerjahren anstelle (nicht an der Stelle) der ehemaligen antiken Bibliothek von Alexandria gebaut. Jene war über min. 600 Jahre (300 v.Chr. bis 300 n.Chr.) die grösste Bibliothek von Afrika und soll über 700’000 Schriftrollen besessen haben. Davon ist nichts mehr erhalten, nicht einmal irgendwelche schriftlichen Zeugnisse über den Untergang, der, vermutet man, im Zuge der Islamisierung Ägyptens vonstatten ging. Es lag also nahe, in Alexandria eine neue Bibliothek zu bauen, was ab 1985 unter gütiger Mithilfe des Staatspräsidenten Hosni Mubarak dann auch geschah. 2002 ging der 218-Mio-$-Bau zweier norwegischer und eines österreichischen Architekten in Betrieb. Bezahlt hat die neue Biblioteca Alexandrina gut zur Hälfte der ägyptische Staat, den Rest einige arabische und europäische Geberländer sowie die UNO.

Mit dem Platz von bis zu 8 Mio Büchern könnte die BA die grösste Bibliothek des Kontinents sein. Doch zurzeit umfasst die Sammlung von zugänglichen und unzugänglichen Medien nur rund 550’000 (wobei sämtliche Bände des Verlags grippedbäg aus mir unverständlichen Gründen fehlen). Die Bibliothek hat wohl zurzeit im Finanzhaushalt Ägyptens nicht erste Priorität. Nichtsdestotrotz ist sie bei den alexandrinischen StudentInnen ein heissgeliebter Ort für Recherchen und/oder rauchende Köpfe. 2’000 Arbeitsplätze gibt es Lesesaal und rund 600 Computer. Die Inneneinrichtung wurde vorwiegend in Holz gehalten, was eine warme, sanfte Atmosphäre erzeugt. Wobei ich gerne auch erfahren hätte, woher dieses Holz kam, ebenso wie der Granit der Südfassade (die auch eine Sonnenuhr ist). Beides gibt es in Ägypten nicht.

Biblioteca Alexandrina

Bibliotheca Alexandrina – man sieht’s aus den Köpfen der Studenten rauchen (oder auch nicht, siehe Dame im Vordergrund)

 

Silvester Alexandria

Erst spät oder schon früh

Mühe mit dem Aufzug – schlecht und kurz geschlafen – Suche nach Kaffee – Alexandria scheint nicht auf mich gewartet zu haben

ALEXANDRIA – Hab› mich heute morgen in aller Herrgotsfrühe um 10 Uhr mit dem Hotellift abgemüht. Steh› da in der Kabine und das Ding macht keinen Wank, obwohl er doch grad auf meinen Tastendruck hin hochgefahren kam. Ich untersuch› die Türen, ob sie sauber geschlossen sind, schliess sie sauber, aber der Lift steht da wie der Esel am Berg im 13. Stock und rührt sich nicht. Ich denk›, drückst› halt «1» statt «G», gehst› das letzte Stockwerk zu Fuss. Aber nichts geschieht. Und weil eben nichts geschieht, denk› ich mir, der Aufzug ist grad jetzt in diesem Moment ausgestiegen, kann ja vorkommen, und ich will ja jetzt kein Risiko eingehen, dass er dann doch noch losfährt aber irgendwo im Nirgendwo steckenbleibt und niemand findet mich. Stundenlang womöglich. Also geh ich die 13 Stockwerke zu Fuss runter, stolpere zwei Mal weil das Treppenhauslicht nur alle zwei, drei Stockwerke brennt, und freue mich, dass ich mir dabei nichts breche.

Als ich zurückkomme von der erfolgreichen Suche nach Kaffee in dieser Stadt (im Hotel «Alexander der Grosse» gibt’s Kaffee nur aus dem Automaten und da ist Néscafé (oder ein noch grauslicheres Plagiat) drin), hol› den Aufzug runter («CALL») und drücke «13». Es geschieht wieder nichts. Da fährt das Ding plötzlich los und hält in der siebten Etage. Eine Frau tritt in die Kabine, hält den blauben Chip an die dafür vorgesehene und nicht markierte Fläche oberhalb der Tastatur und drückt «G» («Ground Floor»). Jetzt bin ich also wieder da wo ich eingestiegen bin – aber trotzdem etwas weiter.

Alles klar, Murmeltier. Den Chip habe ich nämlich auch (am Zimmerschlüssel), aber total vergessen. Als ich heute morgen um halb Sechs ankam, hat es mir der Nachtportier erklärt: «Blaues Ding an die Fläche halten!» Aber heute morgen, also eigentlich noch bevor Morgen war, war ich nicht mehr wirklich aufnahmefähig, sondern auf Abschalten (Schlafen) fixiert. Endlich in die Pfanne, weiche, weisse Kissen, schwere Decke über mir, und die Hölle kann wüten und morgen scheint eh die Sonne und es gibt den besten Kaffee der Welt. Hoffetli.

Aber weit gefehlt. Nach der Landung erst mal anstehen bei der Bank, die Geld wechselt und auch gleich die Visas verkauft, die Ägypten jedem Tourist für 25 US$ abknöpft. Dann anstehen bei der Passkontrolle, wo man als Visakäufer sowieso der Letzte in der Reihe ist (da die meisten mit mir Einreisenden ÄgypterInnen oder Residents sind und kein Visa brauchen). Dann anstehen bei der Zollkontrolle (wobei man, also ich, wenigstens bei der Gepäckausgabe nicht anstehen muss, weil das Gepäck schon längst wartend seine Runden auf dem Band dreht). Wobei die Ägypter es hier ganz besonders genau nehmen, gar so manchen Einreisenden richtiggehend filzen, wobei dann mancher Einreisender Schreikrämpfe bekommt, weil sie ihm etwas Illegales wegnehmen (z.B. Alkohol). Ausserdem muss sämtliches Gepäck durch den Scanner, wobei dann natürlich auch hier einiges zur Kontrolle anfällt, aber, wenigstens im Moment, grad keine Waffen oder Sprengstoffbausätze gefunden werden.

Eineinhalb Stunden hat das Einreiseprozedere gedauert. Eine Stunde dauerte die Fahrt mit dem Taxi zum Hotel (wobei eine Viertelstunde dafür draufging, eine Strasse zum Hotel zu finden, die nicht durch schwerbewaffnete Sicherheitskräfte gesperrt ist (das Hotel steht gleich neben einer Kirche (christliche Kirchen geniessen zurzeit in Ägypten grad erhöhte Aufmerksamkeit durchgeknallter Moslembrüder und demzufolge eben auch der Polizei). Es war halb sechs, als ich in den weichen, weissen Kissen und der schweren Decke im unterkühlten Hotelzimmer auf der 13. Etage des Alexander dem Grossen lag. Und es war neun Uhr, als der Zimmerboy an die Türe klopfte und das Zimmer machen wollte. Wobei ich dann freundlich Nein sagte, aber trotzdem nicht mehr schlafen konnte, was mich dazu veranlasste, siehe oben, einen Ort zu suchen, wo es einen anständigen Kaffee gibt.

Aber ich war heute morgen, als ich dem Tag bereits zum zweiten Mal begegnete, ganz einfach noch nicht gebacken genug für grössere technische Aufgaben.

Silvester Alexandria

Silvestermorgen in Alexandria – vorne die schwerbewachte griechisch-orthodoxe Kirche

 

Casablanca

Tanger, Rabat, Casablanca

250 Kilometer oder knapp vier Stunden Fahrt mit dem Zug (plus vierzig Minuten Verspätung aufgrund diverser nicht eruierbarer Verzögerungen) sind es von Tanger nach Rabat. Diesmal habe ich die 2 am Rücken beziehungsweise das zweitschlimmste Zimmer im wunderbaren Riad «Dar Alia» bekommen. Das schlimmste wäre auch noch zu haben gewesen, doch das habe ich nach einem kurzen Einblick abgelehnt. Mein Zimmer ist gelb gestrichen, hat aber kein Fenster nach aussen, sondern nur eins zum Patio. Ausserdem ist es gleich beim Eingang, was bedeutet, dass man, also ich, alles mitbekommt, was im Riad ein- und ausgeht. Und sie gehen nicht leise aus und ein, sondern mit viel Geschwätz, mit Türenzuschlagen und laut rollenden Rollkoffern, auch früh am Morgen und spät in der Nacht. Bei aller Schönheit dieser Riads, schallschluckend sind sie nicht, im Gegenteil. So richtig für sich ist man auch nicht, eben wegen dem Fenster zum Hof, durch das die anderen Gäste ins Zimmer schauen und schauen, was man da so treibt, auch wenn man nichts treibt. Man, also ich, muss die Vorhänge ziehen, womit es sogleich dunkel wird im Zimmer. Item, es ist ja nur für eine Nacht. Sonst ist es ein schönes und günstiges Hotel, es hat sogar einen Fernseher im Zimmer und ein funktionierendes Wifi.

Rabat ist keine schöne Stadt. Wäre hier nicht die mauretanische Botschaft, wäre ich nicht hier. Die Stadt hat gespürt, dass ich sie nicht mag und spielt mir einen zünftigen Streich. Ich suche also diese Botschaft auf und, weil hier alles ein bisschen mehr Zeit braucht, komme zu spät. Mit dem Kopf immer noch in der Ersten Welt, haben sich die Umstände während der Überfahrt aber verschoben. Alles braucht seine Zeit, manchmal so viel, dass sie gar keine Rolle mehr innezuhaben scheint. Der Zug braucht mehr Zeit als vorgesehen. Die Orientierung braucht mehr Zeit, das Mittagessen braucht mehr Zeit, der Weg zur mauretanischen Botschaft braucht mehr Zeit. Die liegt sehr weit draussen in einem noblen Vorort, den zu Fuss zu erreichen aussichtslos ist. ÖV gibt es dort nicht mehr, also muss ich ein Taxi nehmen. Taxis sind hier kein Problem, es hat genug, man steht an die Strasse, hebt die Hand und schon ist eines da. Wie im Film. Das nächste Problem ist, dass die Öffnungszeiten dieser Botschaft überall, wo ich darüber etwas finde, im Internet, auf Formularen, anders angegeben sind. Jedenfalls bin ich zu spät. Das ist eine mittlere Katastrophe, denn so muss ich morgen wiederkommen, was aber bedeutet, dass ich das Visum nicht mehr vor dem Wochenende erhalte, da man sich 24 Stunden für die Bearbeitung ausbedingt.

So ist es denn auch. Ich suche am nächsten Morgen erst mal den Bahnhof auf, da es dort angeblich einen Kopierapparat gibt. Im Hotel, diesem kleinen wunderbaren fensterlosen Riad, gibt es keinen Kopierapparat. Im Kiosk am Bahnhof, den mir Madame vom Hotel empfiehlt, ist der Kopierapparat defekt. Nach einer Viertelstunde des Herumirrens finde ich ein Geschäft mit einem funktionierenden Kopiergerät. Alsdann mache ich mich per Taxi zur Botschaft von Mauretanien auf. Dort komme ich um halb zehn schon an und habe Glück. Zweimal sogar, denn erstens gibt es keine Warteschlange vor dem Schalter (aus besagten Gründen beantragt niemand am Freitag ein Visum), und zweitens habe ich die Passkopien schon gemacht, denn man, also der Mann am Schalter, verfügt über keinen Kopierapparat. Hier wird erwartet, dass man alles bereit hat: Drei Passkopien, Pass, zwei Passfotos sowie 350 Dirham (was auf der anderen Seite des Mittelmeers 35€ sind). Ich fülle das Antragsformular aus, zahle und gehe. Ich bin guter Laune.

Casablanca

Casablanca

Ich fahre ins Hotel zurück, buche im Internet ein Hotelzimmer in Casablanca, zahle und gehe. Ich löse ein Erstklassbillett und bin in einer Stunde da. Die junge Dame an der Reception des Hotel «Moroccan House» möchte meinen Pass sehen, den habe ich aber nicht bei mir, denn der liegt auf der mauretanischen Botschaft in Rabat zwecks Visumsantrags. Die junge Dame lässt mich unter keinen Umständen ohne Pass einchecken, also stehe ich da wie der Depp. Ich versuche es ungebucht im Hotel «Ibis» beim Hauptbahnhof. Der Pass sei nicht das Problem, sagt der Concierge da, er brauche eigentlich nur die Nummer – «la numéro d’entrée en maroc» ­ die mir bei der Einreise in den Pass gestempelt wurde . Diese Nummer habe ich natürlich nicht notiert. Ich rufe Madame im Dar Alia in Rabat an. Madame gesteht, dass sie mich nicht registriert habe, man sei désolée, sie hätte sich diese Nummer nicht notiert. Ich war also ein «schwarzer Gast», einer, von dem das Steueramt nichts erfährt. Da hätte ich eigentlich auch einen besseren Preis aushandeln können. Item, ich habe die Quittung der mauretanischen Botschaft bei mir, da steht eine Telefonnummer drauf, die rufe ich nun hoffnungsvoll als nächstes an. Dort aber sagt man mir herzlich, aber aussichtslos, dass die Botschaft geschlossen sei. Es ist Freitagnachmittag halb drei. Ich bin jetzt in einer unangenehmen Lage, weil ohne Hotel, rufe nochmals Madame an, schildere ihr die ungünstigen Umstände, worauf sie zu verstehen gibt, dass ich problemlos zurückkommen könne. Mit dem Gefühl eines Pechvogels im Bauch fahre ich nach Rabat zurück, betrachte mir eine Stunde lang die linke Seite der Bahnstrecke (die Küste) und sinniere dabei: «Rabat, du magst mich nicht, ich mag dich nicht, aber du hast anscheinend noch nicht genug von mir.»

Aus: «Tre Vulcani», 2015

Cinéma Rif Tanger

Le Cinéma Rif

Cinéma Rif Tanger

Das Cinéma Rif am Grand Socco (Place du 9 avril 1947) inTanger

Das hätte ich jetzt nicht erwartet: Ein Kino in Tanger! Und dann noch ein Arthouse-Kino, das jeden Tag fünf Filme abspielt, darunter auch viele im Land selbst gedrehte Dok- und Spielfilme. Dabei ist das «Cinéma Rif» erstaunlicherweise in gutem Zustand, nicht so abgesifft wie so vieles in dieser Stadt. Ein wunderschönes Kino, so im Art-Deco-Stil, mit viel Charme uns stets ein paar schwer rauchenden Intellektuellen (und solche die sich dazu zählen) in den Sesseln im Entrée («Lounge» sagt man dem heutzutags).

Das Cinéma Rif am Place du 9 Avril 1947 (der so heisst, weil der damalige Sultan von Marokko hier am 9. April 1947 eine massgebliche Rede auf dem Weg zur Unabhängigkeit hielt (die Marokko dennoch erst 1956 erlangte)) wurde 1948, also zu Zeiten, als Tanger kein Staat und keine Kolonie, sondern eine Freihandelszone unter internationaler Verwaltung war, gebaut. Der Grund dürfte wohl das wachsende Bedürfnis der internationalen Anässigen, Übersiedler und Diplomaten nach gepflegter cineastischer Unterhaltung gewesen sein. In den Jahren vor der Jahrtausendwende degenerierte das Programm des «Rif» zum Unterhaltungstempel mit seichter Setlist und Bollywood-Filmen, das seinen Saal mit 500 Plätzen nur noch mit Mühe nachhaltig füllen konnte.

2005 wurde das Cinéma Rif totalrenoviert, sein «Grande Salle» wurde in einem mit 380 und einen kleinen mit 60 Sitzplätzen umgebaut. Das Programm wechselte ab der Neueröffnung am 29. Mai 2006 radikal zu Studio- und Dokumentar-Filmen, und zunehmend wurden auch einheimische, bzw. Filme arabischer und ägyptischer Herkunft programmiert. Der Projektor des grossen Saals wurde so gebaut, dass er um 180 Grad gedreht werden und eine Leinwand auf dem Vorplatz des Kino’s bespielen konnte. Damit wurden Openair-Events wie das «Festival national du film de Tanger» (jeweils anfangs März) mit 4’000 Zuschauenden möglich. 2007 etablierten einehimsche und französische Produzenten und Filmenacher das Medienbibliothek und -Netzwerk «Cinémathèque de Tanger».

Place Petit Socco

Petit Socco, la suite

Ich beobachte, wie zwei junge Studenten-Touristen eine ziemlich komplizierte Bestellung beim Kellner aufgeben und ich sehe den Ladenbesitzer, der als Letzter auch noch den Rollladen seines Ladens hochrollt, in dem er Lederjacken für Männer feilbietet. Ich beobachte die Szene in der Türe eines Coiffeurs, wo ich den Kopf eines Kunden sehe, eingeschmiert mit Rasierschaum und zwei Hände, die daran herum fingern. Ich sehe einen alten Mann auf einem Stühlchen kauernd, vor sich eine Kartonschachtel, die, wäre sie nicht unendlich viele Male mit Klebeband umwickelt worden, wohl wegen ihres Alters und täglichen Gebrauchs in sich zusammenfallen würde. Der Mann verkauft Zigaretten, einzeln oder im Paket, den ganzen Tag wird er hier sitzen und am Abend zumindest so viel verdient haben, dass es ihm für einen Teller Suppe reicht oder sonst etwas Existenzielles. Ein etwas jüngerer Mann steht bei ihm, vielleicht der Lehrling, der eines Tages das Geschäft übernimmt, wenn der Alte nicht mehr auf dem Stühlchen sitzen kann. Daneben steht ein altes Auto, ein Alfa, der mal schwarz war oder dunkelblau, jetzt aber verstaubt und verbeult ist und anscheinend trotzdem noch in Betrieb, denn er steht mit laufendem Motor da. Die Karre scheint niemandem zu gehören, die ganze Zeit, die es braucht, um ein Kännchen zu drei Tassen Tee zu trinken, steht das Auto da und verstinkt die Luft, ohne dass irgendwer sich darum kümmert. Ein Alfa ist hier selten zu sehen, dieser da muss eine interessante Geschichte haben. Ein Schuhputzer möchte sich meine Schuhe vornehmen, ich möchte aber nicht, irgendwie ist mir das peinlich, einen Menschen vor mir kauern zu haben, der an meinen Schuhen rummacht. Doch dem Mann geht die Arbeit trotzdem nicht aus, einige der Sitzenden, die ausnahmslos Männer sind, mit Ausnahme des weiblichen Teils des Studenten-Touristen-Paares das seine Bestellung, etwas das aussieht wie ein Cappuccino, bekommen hat, nehmen seine Dienste in Anspruch und ich denke mir, dass Coiffeure und Schuhputzer die letzten wären, denen hier in Tanger oder Marokko die Arbeit ausginge, ginge in Tanger oder Marokko die Arbeit aus.

Place Petit Socco

Gewühl in der Medina: Traditioneller Junggesellenabschied in der Rue Siaghine

In diesem Moment kommen ein paar Touristen um die Ecke, ältere Touristen, italienische Touristen, und es werden immer mehr, da hat wohl oben auf dem Grand Socco ein Touristenbus seine Ladung über die Medina gekippt, und wie sie eben so sind, die Touristen, bleiben stets alle zusammen, auf dass man niemanden verliert, und überschwemmen die engen Gassen der Medina, als wärs ein hochwasserführender Gebirgsbach im Misox. So sind sie für die Nepper und Schlepper ein gefundenes Fressen, eine ganze Horde hat sich schon um die armen Opfer versammelt, auf zwei Touristen kommt ein Händler, der ihnen irgendwas mehr oder weniger Unnützes andrehen will: Türvorlegeteppiche, Ohrringe, Schals, Teekännchen, Armbänder und tausend Dinge mehr.

Für die Touristen wird es nun schwierig, etwas von der Medina und ihrer Stimmung mitzubekommen, denn ist einer endlich abgewimmelt, hängt schon der nächste am Rockzipfel. Ebenso schwierig wird es in so einer Gruppe, sich in ein Café zu setzen, bei einem wunderbaren Minztee den Rundblick zu geniessen, zum einen wäre das Café sogleich überfüllt und anderseits müssten ja auch die Nepper und Bauernfänger irgendwie abgeschüttelt werden können, denn vor der Terrasse des Cafés machen die nicht Halt, genauso wenig wie die Schuhputzer, nur sind die weniger aufdringlich. Doch daran sind Touristen gar nicht interessiert. Sie werden wie auf der ganzen Welt zu den Sehenswürdigkeiten gekarrt, auf dass sie sich betrachten, was sie im gedruckten Reiseführer eingehend studiert haben, oder sich die nie endenden Erklärungen des lebendigen Reiseführers anhören. Nach einer Stunde oder zwei werden sie wieder aufgelesen, in diesem Fall fährt der Busfahrer vermutlich um die Medina herum und nimmt seine Klienten unten im Hafen wieder auf. Das finde ich logistisch ziemlich durchdacht, muss man doch als Tourist nicht wieder die relativ steile Rue Siaghine hochgehen. Mein Tee ist getrunken, mein Zug nach Rabat fährt bald und ausserdem stecken sich die beiden Studenten-Touristen je eine Zigarette an und der ganze üble Gestank zieht zu mir herüber. Zeit, Tanger zu verlassen. Das Geheimnis Tangers glaube ich entdeckt zu haben: Es gibt keines. Es ist wie überall: Man lebt und versucht sich dabei irgendwie über Wasser zu halten.

Aus: «Tre Vulcani», 2015

Dacia in Tanger

Dacia zollfrei

Warum fahren eigentlich soviele Dacia-Taxis herum in Tanger (Kurzstrecken-Taxi’s erkennt man daran, dass sie blau sind)? Der Grund ist ein einfacher: Ein Dacia der günstigesten Ausführung kostet hier um die 7’500 Fr (74’500 Dirham für den Dacia Logan 1.2 MPI 75 Base, siehe Bild). Was natürlich nicht nur für die Taxifahrer ein Kaufargument ist, sondern auch für ganz normale Autofahrer. Der Preis ist heiss und günstig, trotzdem muss ein durchschnittlicher Arbeiter in Marokko 25 Monatslöhne für so einen Billg-Dacia aufwenden (unsereiner etwa 4).

Die Dacia’s, ob blau oder privat, prägen inflationär das Strassenbild in Tanger. Vor vier Jahren hat man, also ich, noch fast keinen gesehen. Nun schwirren diese ehemals aus Rumänien kommenden Autos überall herum. Ich komme nicht um die Vermutung herum, zu vermuten, dass die Taxihalter Dacia’s kaufen müssen, wenn sie ein neues Auto kaufen. Der Gedanke ist nicht so abwegig. Man weiss, dass Korruption und/oder sanfte bis dringendende Bürgerlenkung Instrumente der Regierung sind im Maghrebstaat.

Das Dacia-Aufkommen hat aber auch einen anderen Grund. Seit 2012 baut die Mutterfirma Renault in einem brandneuen Werk in der Nähe von Tanger mit 8’000 Mitarbeitenden Low-Cost-Dacia’s zusammen. 340’000 Dacia’s will man in dem 300 Hektaren grossen Industriepark «auf der grünen Wiese» jährlich ausstossen. Und tatsächlich lief im Juli dises Jahres, also nach fünfeinhalb Jahren der 1-millionste Dacia vom Band (2015 betrug die Produktion von Dacia in Marokko und Rumänien zusammen 550’000 Stück). Natürlich braucht Marokko nicht 240’000 neue Dacia’s pro Jahr, die Zahl der Neueinlösungen von Personenwagen betrug 2016 nur 147’000, der grösste Teil davon waren Importe (bei 35 Mio Einwohnenden etwas wenig, aber Autos werden hier viel länger im Verkehr gehalten als bei uns).

95 Prozent der in Tanger produzierten Dacia’s werden exportiert. Renault nutzt dazu den neuen Industriehafen Tanger Med ganz in der Nähe. Logistich ist das eine optimale Lösung (was auf Planung von langer Hand und von ganz oben auf beiden Seiten, Marokko und Frankreich, hindeutet). Die neuen Autos werden noch im Werk auf Güterzüge verladen, diese fahren die paar Kilometer zum Hafen, wo sie in Autoschiffe, sog. «Car Carriers», verladen werden. Von Tanger Med aus gehen die Dacia’s in zurzeit 73 Länder, unter anderem nach Europa (via Zeebrugge), Türkei, Ägypten, Naher und Mittlerer Osten. Die Regierung (der König) Marokko’s hat Renault die Ansiedlung des Werk’s (man spricht von einer Investitionssumme von 1 Mia €) gehörig versüsst: In den ersten fünf Jahren wurde das Unternehmen von der Unternehmenssteuer befreit, seit 2017 gilt für 20 Jahre ein ermäßigter Satz. Von der Mehrwertsteuer ist Renault/Dacia gleich ganz befreit.

Dacia in Tanger

Renault hat mit seinen Dacia’s die Taxibranche in Tanger im Griff

Petit Socco

Petit Socco

Doch ich verlasse Tanger nicht, ohne noch einmal den «Place Petit Socco» aufgesucht zu haben. Truman Capote hat hier seine Lieblingsecke gefunden und ich muss sagen, er hatte recht, der gute Truman, hier bekommt man den besten Einblick in die Welt der Tangerianerinnen und Tangerianer. Der Place Petit Socco ist, wie sein Name sagt, kein grosser Platz, keiner der Versammlungsplätze, die in den modernen Städten Marokkos üblich sind, wo man flaniert und sich trifft und schwatzt und die Jungens nach Girls Ausschau halten und umgekehrt. Der Petit Socco ist dennoch der grösste Platz in der Medina von Tanger. Er liegt im südlichen Drittel dieser Medina, exakt auf der Achse, die vom Hafen hinauf zum «Grand Socco» führt, dem Flanierplatz am südlichen Rand der Medina, mit Springbrunnen in der Mitte und chaotischem Autoverkehr drumherum. Autos haben in der Medina keine weitreichenden Bewegungsmöglichkeiten, deshalb erübrigt sich ein Fahrverbot. Der eine oder andere Ladenbesitzer fährt aber trotzdem rein ins Gewirr der Gassen und Gässchen, ob zur Sicherstellung des Nachschubs oder zur Zuschaustellung seines eben erst neu erworbenen Luxusschlittens. Ansonsten werden die Läden der Medina von eifrigen Laufburschen oder Lieferanten auf umgebauten Motorrädern bedient. Vorne hat dieses Trike einen originalen Motorradteil, meistens der Marke Suzuki, hinten eine Achse mit zwei Rädern und einer Ladebrücke drauf. Offensichtlich sorgt auch hier der Staat für die einheimische Spezialfahrzeugbauindustrie und verhindert mit exorbitant hohen Zöllen den Import von bereits Erfundenem und Bewährtem, den italienischen Apes zum Beispiel. Doch anzugsstärker und schlanker sind diese Trikes allemal und gar mancher der Fahrer hat sogar einen Helm auf. Würde ich auch machen, führe ich derart forsch durch die engen Gassen dieser Medina, wo die Rechte der Fussgänger genauso wie auf der sechsspurigen «Avenue Mohammed V» keinen Pfifferling wert sind.

Dass am Petit Socco überhaupt ein Ort entstand, der Platz genannt wird, ist wohl eher Zufall als gezielte Stadtplanung. Denn eigentlich ist er ja kein Platz, sondern eine Verbreiterung der «Rue Siaghine», die entstand, weil ein Haus etwas weiter zurück gebaut wurde als die anderen. An diesem Platz gibt es drei wunderbare Cafés, eine Spelunke, eine Snack-Bar, ein Hotel, die «Ancienne Poste Espagnole», eine Moschee und ein paar Läden. Mehrere Seitengassen und -gässchen, aus denen und in die Menschen mit exakten Zielvorstellungen vor ihren Augen strömen, zweigen von ihm ab. Jetzt im Februar scheint am Morgen die Sonne gerade so auf die Terrasse des «Café Tingis», dass man sich beim «The à la menthe» herrlich wunderbar wärmen kann. Capote hat über den Platz die folgenden Worte geschrieben: «Hier ist das Tätigkeitsfeld der Prostituierten, das Hauptquartier der Rauschgifthändler, ein Zentrum der Spionage, aber es ist auch der Platz, wo schlichtere Leute ihren Abend-Aperitif trinken.»

Mag sein, dass in den Fünfzigern (als Capote dies schrieb) hier sich die Spione des Westens wie des Ostens gewollt oder unabsichtlich über die Wege liefen und vielleicht ist das mit den Huren beiderlei Geschlechts noch heute so. Ich habe jedoch keine Agenten getroffen und auch keine Nutten gesehen, muss aber anführen, dass ich nie abends auf diesem Platz war, sondern, wie gesagt, an drei Vormittagen. Das mit dem Rauschgift jedoch kann ich bestätigen, da kennen die einschlägigen Dealer gar nichts, die versuchen dem Europäer auch morgens schon Haschisch anzudrehen. Die gleichen luscheren Typen versuchen auch mir «chocolat» zu verkaufen, ich denke jedoch nicht, dass sie wirklich Schokolade meinen, vielmehr wird es sich dabei um Mädchen oder Buben dunkler Hautfarbe handeln. Wie erwähnt, drei Mal bin ich am Morgen gegen halb zehn auf diesem Platz gewesen und habe mir einen Tee auf einem Silbertablett gegönnt. Für 10 Dirham, also 1.10 Fr. für eine Kännchen Tee, aus dem sich das Glas drei Mal füllen lässt. Wozu der Löffel ist, weiss ich nicht, denn der Zucker ist ja schon drin im Tee, und zwar reichlich, der Löffel, wollte ich damit den Glasinhalt umrühren, bleibt beinahe stecken darin. Und damit man sich nicht die Finger verbrennt, gibt es ein Serviettchen dazu, mit dem man das Kännchen halten kann. Denn einschenken muss man selber. Währenddem ich dieses wunderbare, aber ziemlich heiss servierte Gebräu etwas abkühlen lasse, schaue ich dem Treiben auf dem Petit Socco zu.

Petit Socco

Dem Metzger entwischt – Schafbock auf dem Place Petit Socco

Zehn Uhr vormittags, die Menschen der Medina beginnen zu erwachen, trinken in den Cafés ihre ersten «Café noirs», in den Fruchtsaftbuden ihre Fruchtsäfte oder brauen sich neben der Kasse in ihrem Laden ihren Morgentee. Noch ist kein Tourist zu sehen, was ich ebenfalls als sehr angenehm empfinde. Mein Blick fällt, weil blickfeldfüllend, auf einen weissen, brandneuen und ziemlich arrogant parkierten Geländewagen des Typs BMW X6. 90‘000 netto kostet das Geschirr bei uns in seiner günstigsten Ausführung. 831‘500 Dirham bedeutet das hier in Marokko, plus 70 Prozent Zoll, was dann 1‘413‘550 Dirham, also eineinhalb Millionen, macht. Muss ein ganz potenter Zeitgenosse sein, denke ich, vielleicht hat er sich ja den Zoll mit einem netten Geschenk an den zuständigen Sachbearbeiter im Zollministerium gespart. Doch das ist eine ziemlich freche Unterstellung meinerseits, ich mag‘s dem Mann doch gönnen, wenn er Erfolg hat bei seinen Geschäften, die krumm sein mögen oder legal. Er gibt sich im Übrigen gerade zu erkennen, weil er einen Mann mit der Fernbedienung zum Auto schickt, um die Türschliessung zu testen, denn anscheinend funktioniert sie auf die zehn Meter, die zwischen der Karre und seinem Besitzer, der auf der Veranda des «Café Central» sitzt, liegen, nicht. Plötzlich kommt mir dieser Capote in den Sinn, der Grund dafür sind zwei Jungs, die den Eindruck wecken, als seien sie vom selben Ufer, aber auch das ist eine freche Unterstellung, deren Wahrheitsgehalt ich lieber nicht weiter untersuchen möchte. Als nächstes fährt mir der Gedanke ins Hirn, wie oft all die Leute, die fleissigen Schreiber und faulen Lebeleute, die hier eine gewisse Zeit verbracht haben, heute im Internet erwähnt werden, wegen eines ausführlichen Romans oder eines warmen Furzes, den sie gelassen, oder weil sie eine Party gefeiert haben, siehe weiter vorne bei «Hutton». Mir fährts ins Hirn, dass wohl auch jegliche Textstellen dieses Elaborats dereinst auf dem Internet wiedererscheinen werden und damit auch mein Name, und ich frage mich, ob ich wohl in einem Zug genannt werde mit diesen schwulen Schriftstellern, die sich hier der schönen jungen braungebrannten Berbersöhne bedient haben.

Aus: «Tre Vulcani», 2015

Petit Socco

Körperpflege am Place Potit Socco – guter Barbier, schlechter Fotograf

L'americaine - Dar Lidam

Casablanca

Nein, «Casablanca» wurde nicht in Casablanca gedreht. Auch nicht in Tanger, ja überhaupt gar nicht in Marokko, sondern in einem Studio der Warner Bros. in Hollywood. Wissen wir alle längst. «Rick’s Café Américaine» ist reine Studio-Fiktion, Kulisse. Dennoch keine Kulisse, die einfach so aus der Luft (dem Hirn eines BühnenbildnersIn) gegriffen wurde. Dem Rick (Humphrey Bogart) sein Café ist eine Kopie des Restaurant «El Erz» im Luxushotel «El Minzah» in Tanger.

Gestern war ich da und hab› mir das angesehen. Das El Minzah ist ein Obermittelklassehotel im Zentrum der Stadt unweit des Hafens und der Medina. Die Nacht im günstigesten Zimmer mit Fenster in die Stadt kostet da um die 80€, eine Suite mit Sicht auf den Hafen etwa das Dreifache. Das Restaurant (als eines von sechs Bars und Restaurants) wird als Frühstückssaal benutzt. Der Bühnenbildner oder die -in in Casablanca hat ausser den Gewölbebögen nicht viel übernommen. Weder die riesige Fensterfront hat ihn/sie interessiert noch die üppigen Vorhänge noch die Bar gleich daneben. Er/sie hat die Bögen etwas in die Länge gezogen und alles in Weiss gehalten. Was dann herausgekommen ist, könnte eine Spelunke überall in Marokko sein oder eben doch aus der Luft gegriffen.

Dennoch wurde Rick’s Café berühmt. So berühmt, dass Massen von Touristen es in der Stadt Casablanca suchten und nicht fanden. Bis eine US-amerikanische Diplomatin es nachbauen liess. Rick’s unechte Spelunke gibt es nun in Casablanca zu sehen am 248 Boulevard Sour Jdid / Place Du Jardin Public. Wie man hört, halten es die Leute tatsächlich für den Drehort von 1942.

Restaurant «El Erz» im Hotel El Minzah in Tanger- das Original von Rick's Café Americaine

Restaurant «El Erz» im Hotel El Minzah in Tanger – das Original von Rick’s Café Américaine

Wahrscheinlich war dieses Restaurant El Erz in Tanger der erste Schauplatz (wenn auch ein kopierter) für den Dreh eines westichen Kinofilms. Im Jahr 2015 wurde mit «Spectre» einer der letzten Filme in Tanger gedreht (bzw. Sequenzen daraus). Man erinnert sich: James Bond trifft sich in Tanger mit Madeieine Swann (Léa Seydoux) im Hotel «L’Américain» (was für eine Parallele!) und verbringt mit ihr eine Nacht bevor sie am nächsten Tag den Firmensitz des Bösewichts (Christoph Waltz) ausräuchern. Auch dieser Drehort war totaler Beschiss am Volk. Das L’Américain gab und gibt es nicht. Die Dreharbeiten haben in einem privaten Riad in der Medina namens «Dar Lidam» stattgefunden. Doch auch das haben Filmfans rausgefunden. Nur hier zeigt sich der Besitzer nicht so gästefreundlich wie der Hotelier im El Minzah. Er, so er denn überhaupt mal da ist (es ist sein Ferienhaus), lässt keine wildfremden Touristen in sein Haus. Was ja nachzuvollziehen ist.

Bei Casablanca, der eigentlich als Anti-Nazi-Propagandafilm gedacht war, musste gespart werden. Für die Kulisse des Cafés wurden 5000$ budgetiert (am Schluss kostete sie das Doppelte), der ganze Film kostete eine knappe Million Dollar. Gedreht wurde fast nur im Studio. Für Spectre betrug das Budget 245 Mio $, für die wenigen Sekunden, die der Film aus Tanger zeigt, reisten 100 Leute für zwei Wochen nach Tanger und belegten 1500 Hotelnächte. Das Quartier in der Medina, in dem die Dar-Lidam-Szenen gedreht wurden, wurde für zwei Tage komplett abgesperrt.

 

Grab von Ibn Battouta in Tanger

Ibn Battouta’s Grab

Wenn man also tief in Tangers Medina eintaucht, wenn man immer weiter geht und alle Strassenkarten auf dem Internet vergessen muss, weil sie einach nicht mehr stimmen, wenn man also denkt, jetzt geht es dann wirklich nicht mehr weiter, genau dann, dann geht es nicht mehr weiter. Sackgasse. In einer dieser Sackgassen, die sogar einen Namen hat (alle Gassen in der Medina von Tanger haben Namen), nämlich «Rue Ibn Battouta», liegt am Ende, bzw. steht das Grabhaus von Ibn Battouta («Le tambeau Ibn Battouta»). Und wenn man jetzt glaubt, dieses Tambeau sei derart unauffindbar tief drin in dieser Medina, dann glaubt man unrichtig, denn es sind schon zwei Touristen auch da.

Offensichtlich ist die Grabstätte in den gedruckten und geonlineten Reiseführern nicht unerwähnt. Das ist auch richtig so, denn dieser Ibn Battouta ist ein recht berühmter Sohn der Stadt. Wahrscheinlich der berühmteste, obwohl er keine wirklich grossen Heldentaten vollbracht hat. Aber das haben andere aus Tanger wohl auch nicht, und darum ist Ibn Battouta der berühmteste Tangerer. Andererseits, weil er eben nicht wirklich heldenhaftes vollbracht hat, hat es nur für eine kleine Inschrift an seinem Grabhaus gereicht und nicht zu einem Riesendenkmal auf einem zentralen Platz in der City. Immerhin aber hat man den Flughafen der Stadt nach ihm benannt: «Aéroport Tanger Ibn Battouta» (wobei sich die Verantwortlichen erst 2008 dazu bewegen liessen, den Flughafen gibt es schon seit 1958 und er hiess vorher anders).

Tambeau de Ibn Battouta

Das Grabhaus des berühmtesten Tangerers Ibn Battouta am Ende der nach ihm benannten Gasse in der Medina von Tanger

Wer ist dieser Mann, der kein Held und doch berühmt war? Er ist einer wie ich, bzw. er war einer wie ich bin. Ein schreibender Reisender bzw. reisender Schreiber. Er ging schon als 21-Jähriger (wie ich) in die weite Welt. Er wurde 1304 in Tanger geboren (ich nicht) und sah sich, kaum erwachsen geworden, verplichtet, den «Hadsch» nach Mekka anzutreten. Von dieser Pilgerfahrt kehrte er erst 1346, also 21 Jahre nachdem er aufbrach, in seine Geburtsstadt zurück. Er blieb nicht in Mekka, sondern bereiste fast alle bis dahin islamisierten Länder im Osten und dazu noch ein paar nicht islamisierte. Es verschlug ihn nach Indien und China und als er sich zur Rückreise besann, machte er noch einen Abstecher nach Tansania.

Doch er wäre wahrscheinlich nicht nach Marokko zurückgekehrt, wenn in der ganzen Region des Nahen Ostens nicht die Pest ausgebrochen und noch dazu zuhause sein Vater nicht gestorben wäre. Also ging er nach Tanger zurück, wo er vergewärtigen musste, dass inzwischen auch seine Mutter hingeschieden war. Ganze drei Jahre hielt es Battouta in Tanger aus, dann reiste er erst nach Norden, nach Andalusien (das damals eben auch islamisiert war), dann in den Süden, nach Mauretanien, Mali und Niger. Ende 1353 kehrte er endgültig nach Tanger zurück. 1368 verstarb er dort. Von seinen 64 Jahren war er 26 unterwegs gewesen. Wissenschaftler, die seine Reisen nachrecherchierten, summierten seine zurückgelegten Wege auf 120’000 Kilometer. Ibn Battouta reiste drei Mal um die Welt, sozusagen. Das war seine Heldentat und machte ihm berühmt. Dabei, und das ist die letzte Parallele zum mir noch unberühmten Reisenden, schrieb Battouta alles auf, was er sah und erlebte. Auch Erlebnisse, die sich später als erfunden herausstellten (was ihn von mir wiederum unterscheidet). Seine Aufzeichnungen liess er unter dem Titel «rihla» (Reise) zurück. Sie wurden in der Zwischenzeit mehrmals übersetzt und auf deutsch unter «Reisen ans Ende der Welt» veröffentlicht. Darin nicht enthalten ist die Episode, in der Battouta schreibt (behauptet), das frisch geborene Kalb seines Kamels gegessen zu haben, weil es ihn an der Weiterreise gehindert hätte.