Doch ich verlasse Tanger nicht, ohne noch einmal den «Place Petit Socco» aufgesucht zu haben. Truman Capote hat hier seine Lieblingsecke gefunden und ich muss sagen, er hatte recht, der gute Truman, hier bekommt man den besten Einblick in die Welt der Tangerianerinnen und Tangerianer. Der Place Petit Socco ist, wie sein Name sagt, kein grosser Platz, keiner der Versammlungsplätze, die in den modernen Städten Marokkos üblich sind, wo man flaniert und sich trifft und schwatzt und die Jungens nach Girls Ausschau halten und umgekehrt. Der Petit Socco ist dennoch der grösste Platz in der Medina von Tanger. Er liegt im südlichen Drittel dieser Medina, exakt auf der Achse, die vom Hafen hinauf zum «Grand Socco» führt, dem Flanierplatz am südlichen Rand der Medina, mit Springbrunnen in der Mitte und chaotischem Autoverkehr drumherum. Autos haben in der Medina keine weitreichenden Bewegungsmöglichkeiten, deshalb erübrigt sich ein Fahrverbot. Der eine oder andere Ladenbesitzer fährt aber trotzdem rein ins Gewirr der Gassen und Gässchen, ob zur Sicherstellung des Nachschubs oder zur Zuschaustellung seines eben erst neu erworbenen Luxusschlittens. Ansonsten werden die Läden der Medina von eifrigen Laufburschen oder Lieferanten auf umgebauten Motorrädern bedient. Vorne hat dieses Trike einen originalen Motorradteil, meistens der Marke Suzuki, hinten eine Achse mit zwei Rädern und einer Ladebrücke drauf. Offensichtlich sorgt auch hier der Staat für die einheimische Spezialfahrzeugbauindustrie und verhindert mit exorbitant hohen Zöllen den Import von bereits Erfundenem und Bewährtem, den italienischen Apes zum Beispiel. Doch anzugsstärker und schlanker sind diese Trikes allemal und gar mancher der Fahrer hat sogar einen Helm auf. Würde ich auch machen, führe ich derart forsch durch die engen Gassen dieser Medina, wo die Rechte der Fussgänger genauso wie auf der sechsspurigen «Avenue Mohammed V» keinen Pfifferling wert sind.
Dass am Petit Socco überhaupt ein Ort entstand, der Platz genannt wird, ist wohl eher Zufall als gezielte Stadtplanung. Denn eigentlich ist er ja kein Platz, sondern eine Verbreiterung der «Rue Siaghine», die entstand, weil ein Haus etwas weiter zurück gebaut wurde als die anderen. An diesem Platz gibt es drei wunderbare Cafés, eine Spelunke, eine Snack-Bar, ein Hotel, die «Ancienne Poste Espagnole», eine Moschee und ein paar Läden. Mehrere Seitengassen und -gässchen, aus denen und in die Menschen mit exakten Zielvorstellungen vor ihren Augen strömen, zweigen von ihm ab. Jetzt im Februar scheint am Morgen die Sonne gerade so auf die Terrasse des «Café Tingis», dass man sich beim «The à la menthe» herrlich wunderbar wärmen kann. Capote hat über den Platz die folgenden Worte geschrieben: «Hier ist das Tätigkeitsfeld der Prostituierten, das Hauptquartier der Rauschgifthändler, ein Zentrum der Spionage, aber es ist auch der Platz, wo schlichtere Leute ihren Abend-Aperitif trinken.»
Mag sein, dass in den Fünfzigern (als Capote dies schrieb) hier sich die Spione des Westens wie des Ostens gewollt oder unabsichtlich über die Wege liefen und vielleicht ist das mit den Huren beiderlei Geschlechts noch heute so. Ich habe jedoch keine Agenten getroffen und auch keine Nutten gesehen, muss aber anführen, dass ich nie abends auf diesem Platz war, sondern, wie gesagt, an drei Vormittagen. Das mit dem Rauschgift jedoch kann ich bestätigen, da kennen die einschlägigen Dealer gar nichts, die versuchen dem Europäer auch morgens schon Haschisch anzudrehen. Die gleichen luscheren Typen versuchen auch mir «chocolat» zu verkaufen, ich denke jedoch nicht, dass sie wirklich Schokolade meinen, vielmehr wird es sich dabei um Mädchen oder Buben dunkler Hautfarbe handeln. Wie erwähnt, drei Mal bin ich am Morgen gegen halb zehn auf diesem Platz gewesen und habe mir einen Tee auf einem Silbertablett gegönnt. Für 10 Dirham, also 1.10 Fr. für eine Kännchen Tee, aus dem sich das Glas drei Mal füllen lässt. Wozu der Löffel ist, weiss ich nicht, denn der Zucker ist ja schon drin im Tee, und zwar reichlich, der Löffel, wollte ich damit den Glasinhalt umrühren, bleibt beinahe stecken darin. Und damit man sich nicht die Finger verbrennt, gibt es ein Serviettchen dazu, mit dem man das Kännchen halten kann. Denn einschenken muss man selber. Währenddem ich dieses wunderbare, aber ziemlich heiss servierte Gebräu etwas abkühlen lasse, schaue ich dem Treiben auf dem Petit Socco zu.
Zehn Uhr vormittags, die Menschen der Medina beginnen zu erwachen, trinken in den Cafés ihre ersten «Café noirs», in den Fruchtsaftbuden ihre Fruchtsäfte oder brauen sich neben der Kasse in ihrem Laden ihren Morgentee. Noch ist kein Tourist zu sehen, was ich ebenfalls als sehr angenehm empfinde. Mein Blick fällt, weil blickfeldfüllend, auf einen weissen, brandneuen und ziemlich arrogant parkierten Geländewagen des Typs BMW X6. 90‘000 netto kostet das Geschirr bei uns in seiner günstigsten Ausführung. 831‘500 Dirham bedeutet das hier in Marokko, plus 70 Prozent Zoll, was dann 1‘413‘550 Dirham, also eineinhalb Millionen, macht. Muss ein ganz potenter Zeitgenosse sein, denke ich, vielleicht hat er sich ja den Zoll mit einem netten Geschenk an den zuständigen Sachbearbeiter im Zollministerium gespart. Doch das ist eine ziemlich freche Unterstellung meinerseits, ich mag‘s dem Mann doch gönnen, wenn er Erfolg hat bei seinen Geschäften, die krumm sein mögen oder legal. Er gibt sich im Übrigen gerade zu erkennen, weil er einen Mann mit der Fernbedienung zum Auto schickt, um die Türschliessung zu testen, denn anscheinend funktioniert sie auf die zehn Meter, die zwischen der Karre und seinem Besitzer, der auf der Veranda des «Café Central» sitzt, liegen, nicht. Plötzlich kommt mir dieser Capote in den Sinn, der Grund dafür sind zwei Jungs, die den Eindruck wecken, als seien sie vom selben Ufer, aber auch das ist eine freche Unterstellung, deren Wahrheitsgehalt ich lieber nicht weiter untersuchen möchte. Als nächstes fährt mir der Gedanke ins Hirn, wie oft all die Leute, die fleissigen Schreiber und faulen Lebeleute, die hier eine gewisse Zeit verbracht haben, heute im Internet erwähnt werden, wegen eines ausführlichen Romans oder eines warmen Furzes, den sie gelassen, oder weil sie eine Party gefeiert haben, siehe weiter vorne bei «Hutton». Mir fährts ins Hirn, dass wohl auch jegliche Textstellen dieses Elaborats dereinst auf dem Internet wiedererscheinen werden und damit auch mein Name, und ich frage mich, ob ich wohl in einem Zug genannt werde mit diesen schwulen Schriftstellern, die sich hier der schönen jungen braungebrannten Berbersöhne bedient haben.
Aus: «Tre Vulcani», 2015