Vom Leben im Zelt

Posted by michl on 14/10/2020 in nebi |

Das Campieren ist keine Erfindung unseren Spassgesellschaft. Es ist ein Hohn gegenüber Nomaden und Flüchtlingen. Und ausserdem heisst es zelten, nicht campieren.

MICHAEL HUG

WELT. Nach der Lockerung des Lockdauns lässt der Bundesrat jetzt nicht locker und besteht darauf, dass wir alle in der Schweiz Ferien machen. Wenn er das durchzieht, werden wir uns in diesem Sommer in den Schweizer Hotels auf den Füssen herumtreten. Wer aber zu spät kommt beim Buchen, den bestraft das Leben mit einem Plätzli auf dem Campingplatz. Scharenweise werden wir Hobby- und Wohnwagenmärkte stürmen, um Zelte, Wohnwagen und Mobilehomes zu kaufen. Nur, wenn er das so will, der Bundesrat, dann müsste er gelegentlich auch die Campingplätze wieder öffnen, also das Zelten und Campieren auf Zelt- und Campingplätzen hierzulande wieder erlauben. (Anm. des Autors: das Zelten war zum Zeitpunkt, als dieser Artikel an einem Sonntagabend entstand, wegen der C-Massnahmen nicht erlaubt.)

Man sagt «cämpen»

Zu den sehr vielfältigen Arten, wie man seinen Urlaub verbringen kann, gehört auch das Campieren, oder «cämpen». Früher, als wir noch nicht alles und jedes verenglischten, sagte man ganz einfach: Wir gehen zelten. Als unser Vater sich stundenlang damit abmühte, unser Sechserfamilienzelt gemäss Bedienungsanleitung oder Gedächtnisprotokoll aufzustellen, hiess das immer «zelten». «Wir gehen dieses Jahr wieder zelten!» sagte unser Vater und dann war es so. Das Zelten war ausserdem die günstigste Art, Ferien ausser Haus zu verbringen und unser Vater war zeit seines Lebens stets bemüht, alles und jedes auf die günstigste Art zu verbringen oder gar nicht. Ferien im Hotel kamen ganz sicher nicht in Frage, da blieb man vorher zuhause. Das Zelten änderte in unserem Tagesablauf nicht allzu viel, ausser dass unsere Mutter noch mehr zu tun hatte als sonst und unser Vater noch mehr Reklamationen wegen Belästigungen der Nachbarschaft oder sonstiger Unflätigkeiten durch uns (Kinder) entgegennehmen musste.

Wildes Zelten erlaubt

Wie gesagt, das gesittete Zelten ist zurzeit nicht erlaubt, weil C-Krise. Das wilde Zelten ist und war nie nicht erlaubt, aber es war zu kalt dafür. Wenn man die Erlaubnis des Bauern hat, kann man, könnten wir schon morgen unser Zelt auf seinem Grund stellen und Ferien machen. Nur, wildes Zelten ist nichts für Familien, die nicht Fahrende sind. Wildes Zelten ist ohnehin nicht mehr angesagt. Wildes Zelten war etwas für damals Junge, heutige Junge gehen ins Alles-Saufen-inklusive-Hotel Urlaub machen oder nach Ischgl. Als ich noch jung war, war Zelten das Grösste. Ich erinnere mich an mein erstes Zelt, das ich zusammen mit meinem Bruder im Jelmoli gekauft habe, als es den noch gab in St.Gallen. Ich war 14, wir stellten dieses wunderschöne blaue 2er-Zelt probehalber für eine Nacht auf die Wiese unseres Nachbarn, weil unsere Wiese voller Gartenzwerge war.

Taschen mit Konservendosen

Nach dem Probelauf fuhren wir im Juli mit unseren Mofas, damals «Schnäpper» genannt, Zelt quer auf dem Gepäckträger, drei Dörfer weiter, wo es einen Zeltplatz gab. Wir füllten unsere Taschen mit Konservendosen und Coca-Cola-Pulver aus dem Kolonialwarenladen unserer Mutter. Vier Paar Landjäger nahmen wir auch noch mit aber kein Bier. Ein, zwei Jahre später, als das Zelt wieder zum Einsatz kam, war Bier der Hauptbestandteil des Inhalts der Tasche, bzw. es waren überhaupt keine anderen Lebensmittel darin, als wir dieses wunderschöne, aber etwas schwere, weil aus Baumwolle, Zelt dieses verdammt steile Waldbord hochschleppten, um schwarz aufs Gelände des Openair Abtwil zu kommen.

Zeugung im Zelt

Jenes Zelt hat im Laufe der Jahre einiges erlebt, ev. auch die Zeugung eines meiner Kinder, es war mit mir auf einer Visionssuche im Schwarzwald, es hat die Rolling Stones in Frauenfeld gesehen und tags darauf Deep Purple. In jenen verrockten Nächten hat es dann sein Leben ausgehaucht, bzw. ich war es einfach leid, ständig Schnüre neu anzunähen und die Kotzete Dritter rauszuwaschen. Aber: Mein Zelt hat sein Leben nicht in Frauenfeld oder im Sittertobel gelassen. Sein Zelt einfach liegenzulassen, das gab es damals nicht. Ein Zelt war noch richtig wertig, es kostete selbst für zwei Personen über 100 Franken, sowas lässt man nicht einfach liegen. Dieses Zelt, mein erstes, einziges und letztes, hat sein Leben auf dem Estrich ausgehaucht, erst mal, dann im Brockenhaus, dann vermutlich endgültig in einer Kehrichtverbrennungsanlage.

Verstreute Lebernsmittel

Ich bin eigentlich kein Zelt-Typ. In der Jugend, ok, da war es manchmal nicht zu umgehen, im Zelt zu hausen, aber wirklich geil war das nur mit Bier und/oder Mädchen. Ich schlief immer schlecht, weil hart, das ganze Lebensmittelzeugs verteilte sich auf, unter und in den Schlafsäcken, und ausserdem diese Ameisen! Und man musste, wenn man ein Mädchen vernaschte, mitten während des Vernaschens davon ablassen um den Reisverschluss beim Eingang zu- und allenfalls den an der Hose aufzuziehen, damit man von Blicken ungestört weitermachen konnte. Andererseits ist unser bürgerliches Freizeitzelten eigentlich ein Hohn gegenüber allen Nomaden und Flüchtlingen. Was wir als Freizeitvergnügen, als Flucht aus dem Hamsterrad, als «Runterfahren» figurieren, ist für Fahrende, Sahara- und Gobinomaden oder Bürgerkriegsflüchtlinge purer, harter und entbehrungsreicher Alltag.

Vergnügliches Leben

Es ist ziemlich zynisch, sich ein Zelt zu kaufen, um sich darin ein vergnügliches Leben einzurichten, wenn Hundertausende der Not gehorchend ganze Leben in Zelten verbringen müssen. Nicht zu Sechst in einem Sechserzelt, sondern zu Zwölft. Wir SchweizerIinnen fahren diesen Sommer nach Tenero, oder an den Bielersee, und stellen nach dem Ankunftsprosecco gutgelaunt unser Zelt auf die uns zugeteilte Parzelle, fahren runter (wenigstens die Väter, für die Mütter geht’s jetzt erst richtig los) und hoffen auf einen schönen warmen Sommer ohne Regen. Derweil wartet im Schatten eines UNHCR-Zelts im Flüchtlingslager Tindouf in der algerischen Sahara ein halbe Million heimatlose Westsaharaouis auf ihre tägliche Wasserration.

Erschienen am 1. Juni 2020 im Nebelspalter

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