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Strom fliesst und Elektriker saufen
ElektrikerInnen sind die einzigen Berufsleute, die mit der Metapher «unter Strom stehen» wirklich etwas anfangen können. Sie wissen aber auch, dass der Strom fliesst und nicht steht. Und hinter allem steht eine tödliche Spannung.
MICHAEL HUG
«Ich stehe unter Strom!» – Das sind nicht die letzten Worte des Elektrikers, der nach dem Znüni wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt und nicht dran dachte, dass er vor dem Znüni den Strom nicht ausgeschaltet hatte. Es gibt nämlich keine letzten Worte eines Stromers, wenn er Nullleiter und Phase (hellblauer/roter Draht) verwechselt hat. Er stand zwar unter Strom, kurz nur, aber ausreichend, doch er sagte nichts mehr, ausser einem Schrei vielleicht, aber sicher keinen vollständigen Satz. Ausserdem brauchte er ja nichts mehr zu sagen, nichts zu erklären, da jeder, der ihn dann findet, sofort erkennt, was geschehen ist – hier stand ein Elektriker unter Strom.
Blöde Sprüche
Ich bin, also war, Elektriker von Beruf, kenne die blöden Sprüche, die Gipser/Bodenleger/Fenstermonteure auf dem Bau von sich geben: «Du hast immer einen Kurzen!», gemeint ist ein Kurzschluss, oder: «Wenn ihr nicht ständig eure Ladung Strom abbekommt, geht gar nichts bei euch», gemeint ist die sprichwörtliche Arbeitsproduktivität des Elektrogewerbes. Unter uns gesagt machte einst in der Stifti auch dieser Reim immer wieder mal die Runde: «Es gibt Motoren, die nicht laufen, aber keine Stromer, die nicht saufen». Insofern verkabelt ein gut geölter Elektrofachmann unbestritten besser, nur leider hat uns die SUVA die Erhöhung der Leitfähigkeit mittels Alkohol auf der Baustelle untersagt. Kein Grund, den Beruf an den Nagel zu hängen und stattdessen Satiretexter zu werden, eigentlich, aber ein Glas oder drei schaden beim kreativen Schreiben tatsächlich auch nicht.
Pendenzen Aufladen
Doch nun zur Sache. «Unter Strom stehen» ist eine Metapher, die wie immer bei Metaphern, aus der Realität stammt (siehe Stromerbeispiel oben). Wenn man unter Strom steht, meint man damit, viel zu tun zu haben (oder sich zuviel Pendenzen aufgeladen zu haben (womit der Bezug zur Elektrizitätslehre gegeben ist: Ladung hat nämlich sehr viel mit Strom zu tun)), zu viele Termine einhalten, zu viele Aufgaben lösen oder lange auf etwas warten zu müssen. Manche Männer (nicht nur Stromer) stehen unter Strom, wenn sie am Feierabend zu spät nach Hause kommen. Manche Spekulanten stehen unter Strom, weil sie aufs falsche Pferd gesetzt haben (noch so eine Metapher). Wobei dies in den Finanzbranche eher selten vorkommt (das mit dem Strom, nicht das mit dem Pferd), da Banker mit fremden Geld spekulieren. In der Tat aber kann der/die BesitzerIn dieses Geldes sehr wohl unter Strom stehen, wenn er/sie erkennt, dass er/sie sein/ihr Erspartes dem falschen Banker anvertraut hat.
Wenn der Föhn geht
Manche Leute stehen unter Strom, wenn der Föhn geht. Wiederum andere, wenn der Flieger/Zug/Uber ohne sie geht. Oder wenn es im Büro auch ohne sie geht (oft eine Erfahrung nach den Ferien). Manche stehen unter Strom, wenn sie nachts um Eins von der Polizei auf den Standstreifen gewunken werden. Manche stehen unter Strom, wenn eine Lieferung nicht oder verspätet eintrifft (Bier/Koks/Ritalin/Heizöl). Manche stehen unter Strom, wenn der Hypozins/die Fallzahlen/die Gegentore rauf- oder der Suezkanal zugeht. Manche stehen erst richtig unter Strom, wenn dem Herzschrittmacher dieser ausgeht. Generell unter Strom stehen unter dem Sternzeichen des Widders Geborene. In den allermeisten Fällen ist eine Folge des unter Strom Stehens, dass es dem/der Betreffenden Schweissperlen auf die Stirn treibt (noch so eine Metapher). Geheimagenten wissen solches tunlichst zu vermeiden. Bond/Bourne/Johnny English sind darauf getrimmt, ihr unter Strom stehen weder äusserlich (Schweiss) noch innerlich (Lügendetektor) zu offenbaren.
Ströme über 50 Milliampère killen
Womit wir bei der Technik angelangt sind. Mittels Lügendedektoren lässt sich erhöhter Strom im menschlichen Körper hervorragend analysieren. Wobei es sich hierbei um ziemlich kleine Ströme handelt. Ströme über 50 Milliampère killen lebende Wesen früher oder später, also sind die im Körper erzeugten Ströme durchwegs kleiner, so klein, dass man sie nicht spürt. Trotzdem ist es aber so, dass jede/r Bewegung/Faustschlag/Gedanke, durch Ströme induziert wird. Eigentlich aber durch elektrische Spannung, richtigerweise, denn es ist die Spannung, die Ströme fliessen lässt, sofern Leitfähigkeit gegeben ist (nun spricht der Elektriker aus mir!). Wunderbar lässt sich das mit einem Viehhütedraht demonstrieren: Der Schlag, der einen trifft (Metapher!), rührt von der Spannungspitze, die zwischen Draht und Wiese erzeugt wird. Das was dann «fitzt», ist der Strom, der durch einen fliesst. Ganz kurz nur, denn sonst wär man oder die Kuh ja hin, was allerdings nie passieren kann, weil der Fitzgenerator nicht so viel und so lang Energie erzeugen kann. So ein fitzender Viehhütedraht soll ja Vieh oder WanderInnen nur erschrecken, nicht umbringen.
Die Strommergattin freuts vielleicht
In diesem Zusammenhang wundert man sich immer wieder, warum Vögel oder GleitschirmfliegerInnen nicht unter Strom stehen, wenn sie sich auf Hochspannungsleitungen setzen oder an solchen hängenbleiben. Das ist leicht zu verstehen: der Hochspannungsleitung, die wie der Name sagt, unter ziemlich hoher Spannung steht, fehlt der zweite Pol, der die Spannung entladen, somit ein Strom fliessen, kann. Wiese/Hausdach/Kran sind zu weit weg, dass der Vogel oder der Gleitschirmflieger den Stromkreislauf schliessen könnte. Es ist wie bei einer Ehe: wenn zwei sich nahe kommen, knistert die Spannung. Wenn sie sich nach zwanzig Jahren nicht mehr nahe kommen und nur noch anschreien, dann knallt es – die Spannung entlädt sich und der Strom der Zerrüttung fliesst. Ungut, wenn dann der eine Partner Elektriker ist und wegen seiner Ehekrise dermassen unter Strom steht, dass er vor dem Znüni vergisst, den Strom auszuschalten. Dann heisst es in der Unfallmeldung an die SUVA: Der Stromer stand unter Strom, weil er unter Strom stand. Bedauerlicherweise hat er diesen Zustand nicht überlebt. Die Gattin freuts. Naja vielleicht.
Erschienen am 1.05.2021 im Nebelspalter
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